01/11/2015

"Alle Geräusche dieser Welt sind Musik"

DIE WELT




Jean-Michel Jarre begibt sich mit seinem neuen Album auf Zeitreise durch die Geschichte der elektronischen Musik. Im Interview erklärt er, warum er Bob Dylan, Lang Lang und David Lynch bewundert. Von Max Dax

 26.10.15

„Für die jüngeren bin ich ein Pate des Genres“: Jean-Michel Jarre
JENS KOCH



Jean-Michel Jarre ist jetzt 67 Jahre alt, und er sieht unverschämt gut aus. Er sitzt an einem gigantischen Konferenztisch und blickt seinem Gegenüber tief in die Augen, während seine Managerin in der Entfernung fast lautlos Geschäfte am Laptop erledigt. Jarre ist um die Welt gereist und hat sich mit den Köpfen hinter Massive Attack und Tangerine Dream, mit Moby, John Carpenter und sogar dem Klassischen Pianisten Lang Lang getroffen, um ein Album aufzunehmen, das alle Facetten der elektronischen Musik abdeckt. Geschickt inszeniert sich Jarre auf diese Weise als Pate des Genres, selbst wenn seine letzte relevante Platte zugleich seine erste war: "Oxygène", aus dem Jahr 1976.

Die Welt: Monsieur Jarre, vor genau vierzig Jahren versammelte Bob Dylan eine Vielzahl von Persönlichkeiten der amerikanischen Gegenkultur um sich und ging mit ihnen auf Tournee — auf der "Rolling Thunder Tour" wurde er von Allen Ginsberg, Harry Dean Stanton, Joan Baez, Kinky Friedman, Roger McGuinn und vielen anderen begleitet. 

Jean-Michel Jarre: Ich bin ein Fan von Bob Dylan. Ich kenne das Live-Album natürlich. Aber warum fragen Sie danach?

Die Welt: So ähnlich scheinen Sie auch vorgegangen zu sein: Sie versammeln die wichtigsten Protagonisten der elektronischen Musik um sich, aber Sie sind das Feuer, um das sich alle scharen.

Jarre: Natürlich würde ich mich nie mit Dylan vergleichen wollen – wir könnten uns den ganzen Abend über die Feinheiten seiner Winkelzüge unterhalten –, aber Sie haben schon recht: Ich bin mir etwa bewusst, dass die junge Generation der Musiker, die sich im Feld der elektronischen Musik bewegen — Gesaffelstein, Air, aber auch Little Boots oder Boys Noize, die alle auf meinem Album dabei sind —, mich als eine Art Paten des Genres betrachten. Aber wenn man so viele Egos um sich schart, muss einer die Führung übernehmen und dafür sorgen, dass das Ergebnis wie aus einem Guss ist, eben keine zusammengehauene Konzentration von Berühmtheiten. Dazu braucht es eine starke Person, und zwar mich. Aber unterschätzen Sie mal nicht, wie viel ich von meinen Beiträgern gelernt habe. Ich bin ja um die ganze Welt gereist. Ich reiste nach Bristol, um Robert Del Naja von Massive Attack zu treffen, und nach Los Angeles, um mit John Carpenter zusammenzuarbeiten. In Wien nahm ich einen Track mit Edgar Froese von Tangerine Dream gemeinsam auf — Gott habe ihn selig. Er verstarb diesen Januar. Aber ich bin auch ein klein wenig stolz, dass unsere Zusammenarbeit zugleich seine letzte war.

Die Welt: Wir leben in einer Zeit, in der Sie alles mühelos über das Internet hätten koordinieren können.

Jarre: Das stimmt, aber genau das wollte ich durchbrechen. Ihre Analogie zu Dylan ist aber auch in dem Sinne interessant, als er ja nicht bloß Musiker um sich geschart hatte. Ich habe mit John Carpenter und mit David Lynch Nummern aufgenommen. Beide sind Regisseure mit einer gewissen Affinität zur Musik. Aber vor allem handeln und denken sie wie Filmemacher. Gerade diese Begegnungen haben mich verändert. 



„Alle sprechen mich auf ‚Oxygène‘ an“: Jean-Michel Jarre
JENS KOCH
              

Die Welt: Wie hat Lang Lang Sie inspiriert?

Jarre: Lang Lang ist weit mehr als nur ein Pianist. Er ist ein Alien. Lang Lang hat immer versucht, Regeln zu brechen und die Welt des Klangs zu erforschen, die jenseits der Partituren liegt. Zum Beispiel spielt er nicht vom Notenblatt. Er liest die Partitur und spielt dann konzentriert aus dem Gedächtnis heraus. Genau wie Pierre Schaeffer und Pierre Henry, die beiden Erfinder der Musique concrète, hat er eine Sicht auf die Welt, die diese als eine Welt des Klangs definiert. Kein Klang, kein Sound ist verboten — vor allem dann nicht, wenn er als Tonbaustein der echten Welt entnommen wurde. 

Die Welt: Als junger Mann studierten Sie bei Schaeffer. Sie traten 1969 seiner Groupe de recherches musicales (GRM) bei. 

Jarre: Sein elementarer Beitrag zur Musikgeschichte war, dass er die wirklichen Geräusche dieser Welt als Musik begriff. Für ihn war jeder Klang Musik. Hören Sie gut zu: JEDER Klang! Der vorbeifahrende Zug, der Autoverkehr, der Presslufthammer, das Rauschen des Windes. Alles sind Klangquellen oder besser gesagt: konkrete Klänge, die wie Musik sind. Das war seine Botschaft. Und jeder elektronische Musiker, jeder DJ, jeder Produzent heutzutage ist in diesem Sinne einer seiner Enkel. 

Die Welt: Wie sehen Sie den Stellenwert der elektronischen Musik in der Musikgeschichte? Und wo sehen Sie sich selbst?

Jarre: Die elektronische Musik ist aus der kontinentaleuropäischen Tradition der Klassischen Musik erwachsen. Aus Chopin und Stockhausen. Ich sage das in Unterscheidung zur Rock (Link: http://www.welt.de/themen/rock/) - und zur Bluesmusik, die afroamerikanischen Wurzeln entstammt. Ich selbst stand vor der Wahl, entweder ein erfolgloser, weil experimenteller klassischer Komponist zu werden oder mich für die Öffnung zur Popmusik (Link: http://www.welt.de/kultur/pop/) zu entscheiden. Ich begann mich also Anfang der Siebziger dem Pop und dem Progressive Rock zu nähern. Und voilà: Dann veröffentlichte ich das Album "Oxygène" und schrieb mich mit diesem in das kollektive Unterbewusstsein einer ganzen Generation ein. Und ich sage Ihnen eines: Mit jedem Einzelnen, mit dem ich im Laufe des neuen Projekts zusammengearbeitet habe, hatte ich früher oder später ein Gespräch über "Oxygène". Das beweist doch, wie wichtig dieses Album im Rückblick war.

Die Welt: Haben Sie Lang Lang mit einer Partitur konfrontiert — oder baten Sie ihn zu improvisieren? 

Jarre: Sie können einen klassischen Musiker nicht fragen, ob er improvisiert. Das ist ein Widerspruch. Also schrieb ich für ihn 16 kleine Partituren, man könnte auch sagen: Miniaturen oder Aphorismen. Die waren gewissermaßen festgelegt. Aber sie waren Bruchstücke, einzelne Entitäten, nicht miteinander verknüpft. Die Verknüpfungen hat Lang Lang, wenn Sie so wollen, selbst hergestellt. Er warf einen Blick auf die Noten, legte sie weg und machte etwas ganz eigenes daraus. Insbesondere baute er Brücken zwischen den Teilen. 

Die Welt: Das klingt vom Prinzip her, als würde er wie ein Jazzmusiker (Link: http://www.welt.de/themen/jazz/) spielen — es gibt klare Regeln, aber innerhalb derer ist Improvisation erlaubt.

Jarre: Da haben Sie völlig recht. Wir haben vor allem darüber gesprochen, worum es in dem Track geht. Er trägt den Titel "The Train & the River". Der Fernzug und der Fluss sind wie das Yin und Yang des Reisens, der Bewegung von A nach B. Und wir haben das in dem Stück versucht zu emulieren: Das Fließen des Flusses und das Fahren des Zuges — mit dem Klavier und mit den Mitteln der Elektronik. 


Jean-Michel Jarre: Electronica I (Columbia/Sony)
Foto: Amazon
                                                 
Die Welt: David Lynch wird an einer weiteren Folge Ihres Album-Projekts beteiligt sein, das im April 2016 erscheinen soll. 

Jarre: Er ist ein Denker im Bereich der elektronischen Musik. Erinnern Sie sich bitte an die beklemmende Filmmusik zu "Twin Peaks"! Da zeigt sich die Meisterschaft David Lynchs! Er ist ein Architekt der Räume und der Stimmungen. Er vermag es, organische Sounddesigns für Räume zu erschaffen. Manchmal hat man bei ihm das Gefühl, dass der Klang direkt aus dem eigenen Körper entstammt. Auch er ist ein Vertreter der Schule der Musique concrète. 

Die Welt: Wenn man so viele bedeutende Künstler trifft, wie halten Sie diese Begegnungen eigentlich für sich fest? Führen Sie Tagebuch oder machen Sie Selfies?

Jarre: Ich habe mir von jedem meiner Beiträger seine Fingerabdrücke geben lassen. Ich lasse diese Fingerabdrücke jetzt vergrößern auf 2 mal 2 Meter. 

Die Welt: Das ist ein serielles Prinzip, es ist ein Prinzip von Andy Warhol. 

Jarre: Dessen bin ich mir absolut bewusst. In diesen Fingerabdrücken liegt die DNA. Sie haben also ein im wahrsten Sinne des Wortes einzigartiges Portrait, und wir sprechen zugleich über eine höchst ästhetische Angelegenheit. Auf 2 mal 2 Metern wachsen diese Fingerabdrücke zu übermenschlicher Schönheit. Sie werden zu abstrakten Gemälden, die freilich auf etwas Konkretem basieren, nämlich der jeweils einzigartigen Identität des Menschen, den ich getroffen habe.

Jean-Michel Jarre: Electronica I (Columbia/Sony)


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